Schwestern

Ein Kanarienvogel fliegt durch meinen Traum. Seine Farben sind grell und sein Gezwitscher klingt nach Gehässigkeit, Abwertung und Vorwurf. Der Vogel umkreist meinen Kopf. Ich greife nach ihm und falle.

Träume enden immer mittendrin. Alles andere, auch.

Grausamkeit ist ein Märchen. Die Erzählerin ist die Wirklichkeit und wir sind ein Teil davon, Schwester. In der Enge unseres Acht-Quadratmeter-Kinderzimmers mit einer gemeinsamen Schlafcouch wurden wir zu Fremden, die nie mehr zueinandergefunden haben. Die Solidarität verweigerte uns ihre Bekanntschaft.

Es gibt diese Fotos aus Kindertagen. Wir sind auf allen gekleidet, als wären wir Zwillinge. Heute wirkt das wie eine Retusche der Wirklichkeit. So als hätten die Fotos den Auftrag der Ewigkeit zu verklickern, dass alles gut gewesen sei. Schwester. Dieses Wort ist so aufgeladen mit Behauptungen von Verbundenheit, Nähe und Vertrauen, dass jedes gegenteilige Narrativ immer eine Unverschämtheit bleiben wird. Familie ist das Heilige Land, geschützt von Grenzen aus Schweigen und Allianzen. Meine Versuche, das Grauen beim Namen zu nennen, sind allesamt gescheitert. Du hältst fest an der Behauptung, nicht zu wissen, warum ich damals gegangen sei. Alle haben an dem zugewiesenen Platz zu bleiben. Wer keinen hat, ist selbst schuld. Weggegangen. Platz vergangen. Mutter. Kind. Vater. Kind. Bruch.

Mutter. Kind. Vater. Tod.

Sein Hirn hat geblutet. Eine Wunde im Kopf. Die Folge eines Unfalls oder die eines Daseins so angefüllt mit Schmerz, dass dieser bis heute in andere Leben tropft und manchmal alles überschwemmt. Schmerzüberschwemmung. Die Angst hat sich allen Raum genommen. Die Liebe wurde in Ecken gedrängt, in denen sie nicht atmen konnte. Das Echo der Grausamkeit hallt durch mindestens ein Leben.

Ein Zittern am ganzen Körper warnt mich am Sterbebett unseres Vaters vor der Möglichkeit, dass gleich Stimme und Hände gegen mich erhoben werden könnten. Die Liebe kauert in irgendeinem Winkel dieses Krankenhauszimmers, in dem die Angst einen ihrer ganz großen Auftritte hat.  In einem Roman oder Film hätte dieser Moment am väterlichen Sterbebett erzählt von Erlösung, Segen und Verstehen. Nichts ist Fiktion. Die Wirklichkeit weiß sich als Erzählerin dieser Geschichte zu behaupten. Alle Beteiligten sind Teil ihrer Grausamkeit. Alle. Schwester. Alle.

Du liegst in diesem mit Dramen der Vergangenheit vollgestellten Kinderzimmer bäuchlings auf der Schlafcouch. Dein ganzer Körper wird über Stunden von Schluchzen durchschüttelt. Es war, als wäre der von Vaters Groll bewachte und tief in ihm vergrabene Kummer kurz vor seinem Tod aus ihm herausgesprungen und in dich hineingekrochen. Wir redeten nicht. Vielleicht weil wir es nicht konnten oder aber weil Worte dem Leben unseres Vaters nicht angemessen gewesen wären. Er war in drei Sprachen zu Gast, aber in keiner zu Hause. Wie verloren muss es sich anfühlen, wenn nicht mal Worte dir so was wie Heimat sein können. Möglicherweise hast du damals in unserem ehemaligen Kinderzimmer auf der Schlafcouch auch diese Heimatlosigkeit und ihre Folgen beweint. Ich hockte neben dir, meine Hand auf deinem Rücken. Es ist vielleicht der einzige Moment, in dem wir so gleich waren, wie die Kleidung auf den Kinderfotos behaupten will, dass wir es gewesen wären. Ein Augenblick, der außer Konkurrenz hätte sein können, wäre mir später nicht vorgeworfen worden, dass ich am Todestag unseres Vaters nicht eine Träne vergossen hätte.

Wir waren Gegnerinnen in Wettkämpfen, von denen ich immer erst erfuhr, wenn du zur Siegerin gekürt worden warst. Schwester. Es fühlte sich an, als seien wir als ein und dieselbe Person vorgesehen gewesen, aber nur dir wäre es gelungen, die beste Version unserer Selbst zu sein. Jeder deiner Triumphe hat uns weiter voneinander entfernt. Die Sprache, in der du dir angewöhnt hast, mit mir zu kommunizieren, war die der Überheblichkeit. Das ist so geblieben und hat alle späteren Versuche, den Bruch zu kitten, scheitern lassen..

Alles blieb, wie es schon vorher gewesen ist und wurde mit der bisher nicht bekannten Hälfte eines neuen Bruders noch ein bisschen schlimmer. Seine Kindheit war geprägt von deutscher Gutbürgerlichkeit, die ihn nie an seiner Zugehörigkeit hatte zweifeln lassen. Keine Gewalt. Keine Armut. Kein Rassismus. Er weiß schon zwanzig Jahre von der Adoption, als er aus einer Laune heraus nach seiner leiblichen Mutter sucht. Er findet dich. Schwester. Wie alles in dieser Familie beginnt auch diese Geschichte mit Schweigen, Lügen und Allianzen.

Du wusstest längst Bescheid, hast aber nichts gesagt. Kein einziges Wort, obwohl es Gelegenheiten gegeben hätte. Seine Kontaktaufnahme traf mich unvorbereitet. In der Rückschau wirkt sein Gebaren mir gegenüber wie ein Aufnahmeritual. So als würden die Herabwürdigung meiner Person und der Schwesternvergleich seine Familienzugehörigkeit erst unter Beweis stellen. Gleich bei unserer ersten Begegnung erlaubt dieser Mann mit Bart, sich abwertende Aussagen über mein Äußeres. Darüber und über den Vergleich hätte ich hinweggesehen. Es waren die Gewaltverharmlosungen, die dieser einzigen Begegnung ein jähes Ende bereitet haben. „Vielleicht hat sie die Prügel verdient!“ So hat er die Gewalt kommentiert, die unsere Mutter erfahren hatte. Ich habe nicht viele Gründe für sie Partei zu ergreifen, in diesem Moment hatte ich einen.

Träume enden immer mittendrin. Alles andere, auch. Grausamkeit ist ein Märchen. Die Erzählerin ist die Wirklichkeit und wir sind ein Teil davon, Schwester.

Der Vogel sieht aus, als wäre er direkt aus einem Horrorfilm in unsere Wohnung geflogen. Die grellen grünen und roten Farben seines Gefieders schmerzen mir in den Augen. Ich weiß nicht, woher dieser komische Vogel kommt, ich weiß nicht, wie lange er bleiben wird und ich weiß nicht, warum er hier ist. Wir haben schon einen Kanarienvogel. Er trägt den Namen Jocky und er muss seinen kleinen Käfig jetzt mit dem Horrorfilmvogel teilen. Ich werfe ihm böse Blicke zu, wenn es keiner sieht, und ich sage „Mistvieh“, wenn es keiner hört. Ich will, dass der fremde Vogel wieder verschwindet.

Er lag auf dem Boden des Käfigs, als wir aus der Schule nach Hause kommen. Erinnerst du dich, Schwester? Der Trinknapf war umgekippt und das Wasser hatte den Vogelsand zermatscht. Jocky sitzt auf der Stange des Vogelkäfigs, wackelt mit seinem kleinen Kopf und gibt keinen Laut von sich. Ich ziehe den Boden seitlich aus dem Käfig und stupse den zerfetzt aussehenden Horrorfilmvogel mit dem Zeigefinger an. Der Vogel bewegt sich nicht. „Jocky hat ihn totgemacht“ Du weinst, rennst ins andere Zimmer zum Telefon.  Ich bleibe allein in der Küche. Der Tod liegt in grellen Farben im matschigen Vogelsand und ich weiß nicht, was ich machen soll, Schwester. Du tippst mich an, gibst mir den Hörer, und rennst aus der Küche.

 „Nimm eine Tüte“, sagt die Stimme unserer Mutter. Das Gespräch ist beendet, bevor es angefangen hat. Vorsichtig packe ich den toten Vogel in eine Tüte. Ich lege sie auf den Küchentisch, gehe zum Küchenfenster, drücke meine Stirn an die Scheibe und warte über Stunden. Ich esse nicht. Ich trinke nicht. Ich starre abwechselnd aus dem Fenster, zu Jocky und auf die Tüte.  Mutter kommt nach Hause. Ich höre, wie sie mit dir redet, Schwester. Erst als der Trost alle ist, kommt sie in die Küche.  Sie schimpft, weil ich nicht aufgeräumt, nicht abgewaschen und die Pfandflaschen nicht weggebracht habe. Sie nimmt die Tüte vom Tisch und drückt sie mir vor die Brust. Sie schiebt mich aus der Wohnungstür ins Treppenhaus. Ich gehe zum Müllschlucker.

Träume enden immer mittendrin. Alles andere, auch. Grausamkeit ist ein Märchen. Die Erzählerin ist die Wirklichkeit und wir sind ein Teil davon, Schwester.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s