Der Silvestertag hat sich in den vorangegangenen Jahren meistens so angefühlt, als wäre ich auf der falschen Party, auch wenn ich auf gar keiner war. Im Jahr zweitausendzweiundzwanzig hatte ich dieses Falsche-Party-Gefühl über Wochen und Monate an ganz vielen Tagen. Ich konnte zu lange nicht gehen. Viel zu lange.
Würde ich das vergangene Jahr auswringen, so ließe sich locker ein Riesenhallenbadbecken mit Rotz und Tränen füllen. Ich wringe nichts aus. Stattdessen habe ich heute in aller Gründlichkeit den Staub, Dreck und Kummer aus zweitausendzweiundzwanzig von allen Oberflächen meiner Wohnung und aus allen Ecken meines Daseins gewischt. Es hat Stunden gedauert. Die Müllsäcke füllten sich mit Beleidigungen, Machtspielen, Demütigungen, Frauenhass, Ignoranz und noch mehr Quatsch, den keine*r braucht. Gerade habe ich den letzten Sack entsorgt.
Jetzt fühle ich mich, als wäre ich nach einer Operation aus einer Betäubung erwacht. Es ist noch nicht klar, ob alles gut wird, aber das Schlimmste ist überstanden und es sieht so aus, als hätte ich überlebt. Das hätte ich nicht an allen zurückliegenden dreihundertfünfundsechzig Tagen mit Sicherheit behaupten können.
Im untersten Keller meiner Erinnerung steigt heute eine Abschiedsparty für all die Schrecken und Gespenster des vergangenen Jahres. Zu verabschieden sind Menschen, an die ich geglaubt habe. Vielleicht habe ich geahnt, wie wenig Bedeutung das für sie hatte, aber ich wollte es nicht wissen. Ich wollte es zu lange nicht wissen. Sie waren Teil dieser einen Welt, zu der ich zu gehören glaubte. Ich habe ihnen meinen Schlaf, meine Zeit, meine Ideen, meine Kraft und meine Worte geschenkt , ohne zu ahnen, dass eine andere all das eines Tages ihr Eigentum nennen würde, aber genauso ist es gekommen. Diese eine andere steht zusammen mit allen weiteren Schrecken aus zweitausendzweiund-zwanzig im Partykeller meiner Erinnerung rum. Es spielt keine Musik. Wir haben keine gemeinsamen Lieder. Die Getränke schmecken nach Bitterkeit und Scheitern. Ich knabbere ein letztes Mal an dem Verlust und beiße noch einmal auf den Verrat. Es ist fast vorbei. Ein Blick zurück. So viele Brüche. Ein Jahr voller Splitter. Statt Worten lag eine Dauertrockenheit auf meiner Zunge. Ich hatte so einen Durst. Meine Erinnerung nickt mir zu. Es ist vorbei. Der Schrecken. Das Jahr. Der Schmerz. Es gibt keine Verpflichtung, mich zu verschenken. Ich kann gehen. Immer. Ich muss gehen, wenn es keinen Grund gibt zu bleiben, lange vor Jahresende und auch wenn ich gerade erst angekommen bin.
Danke zweitausendzweiundzwanzig für diese Lektion. Vielleicht hätte ich es auch mit weniger Härte begriffen.