Zwei Menschen, die kein du füreinander haben.

Ich bin auf dem Weg in einen Tag, als sich mir ein Gestern in den Weg stellt. Greta. Tränen laufen aus ihrem auf mich gerichteten Blick, während wir uns an einer U-Bahnstation aufeinander zubewegen. Mein Körper folgt dem Impuls, nach einem Taschentuch zu suchen und es ihr zum Trost zu überreichen. Das Klingelgeräusch der einfahrenden U-Bahn ist so laut, als würde es meine Naivität zum Zurückbleiben auffordern wollen. Schon damals bin ich nicht diejenige von uns beiden gewesen, die Taschentücher dabeigehabt hätte.

Nach so vielen Jahren kann Greta immer noch heulen, als wäre eine Kamera auf sie gerichtet und sie zuvor angewiesen worden, ihr Gesicht auf keinen Fall zu einer Grimasse zu verziehen. Das Wasser läuft einfach aus ihren Augen. Ich denke an Eiszapfen, die auftauen. Die U-Bahntüren öffnen sich und Greta steigt ein.  Sie lässt unser Gestern fallen wie eine gerauchte Zigarette. Erst als die Rücklichter der U-Bahn nicht mehr zu sehen sind, sammle ich das Fallengelassene ein.

Erinnerungsfetzen. 

In der Hoffnung auf Linderung meines Zugehörigkeitshungers war ich gerade erst in die Stadt gezogen, in der Greta geboren und aufgewachsen war.  Wir kamen aus entgegengesetzten Richtungen als unsere Wege sich kreuzten. Die von einem Lächeln begleitete Kälte in Gretas Blick war mir vertraut. Ich verstand die Botschaft sofort. Alles zwischen uns würde gut laufen, solange ich keine Ansprüche auf Raum und Bedeutung stellen würde. Weniger war mehr. Das war immer der Deal.

In dem von Greta fallengelassenen Gestern finde ich keinen Erinnerungsfetzen, der von einem Anfang erzählt. Ich erinnere mich aber an meine Sehnsucht nach der Art von Freundschaft, wie Typen sie in Filmen oder Romanen haben. Zwei Kumpels mit Hintergrund versuchen das Leben am Kragen zu packen, halten aneinander fest, während sie über Abgründe springen. Nebel. Hinterhöfe. Musik. Zigaretten. Liebeskummertrostschweigen. Versprechen. Geteilte Träume von großen Chancen und noch größeren Lieben. Schicksalsschläge. Geheimnisse. Niederlagen. Schwüre. Parkplatzsonnenuntergänge zu allen Jahreszeiten, untermalt von der Sehnsucht nach etwas, das sich fühlen lässt, aber für das immer noch nach Worten und Bildern gesucht werden muss. Gemeinsam überwinden die beiden Abgründe oder sie scheitern und manchmal ist das eine vom anderen nicht zu unterscheiden, aber egal ob sie fliegen oder fallen, nichts kann sie trennen.

Diese Sehnsucht ist bis heute nie ganz verschwunden. Greta schon und ohne meinen Zugehörigkeitshunger wären wir vielleicht schon damals geblieben, was wir heute wieder sind, zwei Menschen, die kein Du füreinander haben. Greta war Regisseurin an dem kleinen Off-Theater, zu dem ich unbedingt gehören wollte. Es wurde kein Geheimnis daraus gemacht, dass niemand auf mich gewartet hatte. Nach einer Absage kam ein Vielleicht auf das mir nach einem Könnte ein Gästeplatz zugestanden wurde. Als Tochter einer Gastarbeiterfamilie war ich vertraut mit dem Gästedasein und allem, was dazu gehörte. Unterordnung. Anpassung. Arroganz. Aushalten. Hass. Ertragen. Fleiß. (Selbst)Ausbeutung.

Trotzdem. Damals hielt ich jedes Theater, das mir dir Tür zu seinem Backstage öffnete, für ein Paradies. Zugehörigkeit hatte nun mal ihren Preis. Ich zahlte, ohne zu verstehen, wie sehr ich mich dabei verschwendete. In den Proben pflückte ich auf Aufforderung meine Biografie auseinander. Große Teile meines Seins lagen zusammen mit ausgewählten Komplexen verstreut wie Requisiten über die gesamte Probebühne verteilt. Greta und ihr Hausautor bedienten sich daran, als wären die Tiefen meines Lebens ein Materiallager für Theaterschaffende.

Greta betonte immer, dass ihr Freundeskreis sich ausschließlich aus Männern zusammensetzte. Ihren Erzählungen nach zu urteilen, waren einige von ihnen zuvor Liebhaber oder Partner gewesen oder sie hatten das Zeug, das eine oder das andere noch zu werden. Die meisten von ihnen habe ich nie kennengelernt.

Erinnerungen in Fetzen an gemeinsame Fahrten in der U-Bahn oder in Gretas orangenfarbenen Golf. Verabredungen in Cafés. Wangenküsse. Besuche bei ihr zu Hause. Übernachtungen in ihrer Gartenlaube. Nächtliche Telefonate, aber keine gemeinsamen Partynächte und wir haben einander nie zu Geburtstagen eingeladen. Rückblickend waren wir vermutlich nie Freundinnen, sondern sind einander einfach nur passiert.

Heute erscheint mir diese Freundschaft wie die Attrappe eines Bahnhofs, an dem wir uns vormachten, angekommen zu sein. Gepäck hatten wir beide dabei, auch wenn Greta so tat, als wäre sie nur mit leichtem Handgepäck unterwegs. Es sollte sich noch zeigen, dass auch sie schwer zu tragen hatte. Vielleicht hat sie sich deshalb so sehr an meinem ältesten Koffer gestört. Er war beklebt mit arabischen Stickern, deren Bedeutung ich nicht kannte. Die Verschlüsse waren kaputt und aus allen Ritzen quoll eine Traurigkeit, die älter war als ich.  Greta mochte den Koffer nicht und bat mich, ihn wegzuschaffen. Ich konnte ihn nicht verschwinden lassen, aber ich habe dafür gesorgt, dass sie ihn nie wieder gesehen hat.

Weniger war (ich) für Greta mehr.

Zwischen Gretas Gepäckstücken saß eine achtjährige Tochter. Ich habe sie manchmal von der Schule abgeholt. Die Tochter hat nie viel gesagt, aber sie ist immer an meiner Hand gelaufen. Manchmal hat sie den ganzen Heimweg über laut geschluchzt. Sie weinte anders als ihre Mutter. Der Schmerz stand ihr ins Gesicht geschrieben und ihre Schluchzer hörten sich an, als hätte auch sie einen Koffer voller Traurigkeit, die älter war als sie. Greta nickte als ich ihr davon erzählte: „Wir sind alle nah am Wasser gebaut! Das liegt in der Familie.“ 

Greta weinte oft, ohne dass sie einen Grund dafür hätte nennen können oder wollen. Die Hitze ihrer Tränen ließ die Kälte in ihren Augen schmelzen. Ich mochte das. Zwischen mir und Greta war nie so viel Nähe, als dass die Fremdheit nicht immer noch ausreichend Platz gefunden hätte. Trotzdem gab es Momente, die nah dran waren an der Erfüllung meiner Freundschaftssehnsucht.

Ich war verwickelt in eine Liebe, die keine war. Trennungsdrama in der Spätnachmittagshitze eines Hochsommertags. Geschrei. Beleidigungen. Verzweiflung. Türenknallen. Zittern. Unfähig, mich zu bewegen, hockte ich seit einer Stunde auf einem Bordstein, als mein Telefon klingelte. Es war Greta. Ich schluchzte. Sie hat sich sofort in ihren orangefarbenen Golf gesetzt, um mich abzuholen. Taschentücher hatte sie sowieso immer dabei und an diesem Nachmittag auch Zigaretten. Wir saßen stundenlang in ihrem Auto. Liebeskummertrost ohne Schweigen. Später fuhren wir bei lauter Musik in einen Sonnenuntergang und es fühlte sich an, als würde ich im Fallen fliegen. An diesem Abend dachte ich nicht daran, dass Greta mir umgekehrt nie gestatten würde, ihr auf gleiche Weise Trost zu spenden.  

Ich weiß nicht mehr, wie lange Greta und ich befreundet waren. Die Erinnerungsfetzen erzählen vom wiederholten Wechsel der Jahreszeiten und Fragmenten einer Veränderung. Ich war im Theater weiter Gast auf Bewährung, aber Greta war nicht mehr meine Regisseurin. Im Backstage, auf den Fluren und in der Garderobe hörte ich andere ihren Namen flüstern und ich sah, wie sie dabei Grimassen zogen. Mir wurde nichts erzählt und ich habe niemanden gefragt.

Greta war immer seltener im Theater. Sie beantwortete meine Anrufe nicht. Klingelte ich an ihrer Tür, blieb diese verschlossen. Schließlich traf ich sie zufällig auf der Straße. Bevor ich fragen konnte, erzählte sie mir, dass es ihr gut ginge, dass ihr Kind bei ihrer Mutter sei und ob ich am Abend Zeit hätte, sie auf einen Wein in der Kneipe zu treffen. Ich nickte. Beim Wein benahm Greta sich so, als wäre alles genau wie immer und ich tat es ihr gleich.

Die Abende in der Kneipe wiederholten sich. Eines Nachts vertraute Greta mir ein Geheimnis an. Es drehte sich um ihre Tochter und erklärte deren Traurigkeit. Greta hat mir einen Blick in ihren Abgrund gewährt. Es war wie bei den Kumpels in meiner Freundschaftsfantasie. Nachts. Musik. Das Versprechen, das mir Anvertraute niemals weiter zu erzählen. Bevor ich verstehen konnte, was passiert war, wechselt sie das Thema und erzähle von Flirts und Dates mit Yogalehrern, Musikredakteuren, Heilpraktikern, Winzern und Bildhauern, die alle mehr von ihr wollten als sie von ihnen. Ich hatte zu der Zeit keine Verabredungen, aber selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätte ich Greta das damals glauben lassen. Das war unser Deal. Weniger war ich für sie mehr. In einer dieser Nächte, in denen wir über viel redeten, außer über das Gequatsche im Theater, sagte Greta: „Immer, wenn in meinem Leben gar nichts mehr ging, habe einen Mann kennengelernt, der mich gerettet hat.“  

Der Spott im Theater war kein Flüstern mehr. Er wurde laut über die Flure gebrüllt. Mein Schweigen zählte nicht. Ich war ein Gast auf Bewährung und mir fehlte der Mut das zu riskieren. Das letzte Mal bin ich Greta auf dem Theaterparkplatz begegnet. Ich fand sie in Tränen aufgelöst mit dem Autoschlüssel in der Hand an ihr Auto gelehnt. Das war das erste und einzige Mal, dass ich sie so weinen sah, als würde ein Schmerz von innen nach außen brechen wollen. Taschentücher hatte ich keine dabei und meinen Trost wollte sie nicht.

Sven, der Lichttechniker, kam mit dem Theaterbus gerade von irgendwoher zurück, hielt direkt neben uns, stieg aus und fragte, ob er helfen könnte. Greta zuckte mit den Schultern: „Ich weiß nicht, ob ich fahren kann!“ Es wirkte, als hätte sie auf Sven gewartet. Ich hätte sie auch fahren können, aber sie reichte Sven die Autoschlüssel und zwischen den Blicken der beiden war kein Platz für mich.

Ich fuhr mit der U-Bahn nach Hause.

Kurze Zeit später hörte ich, dass die beiden ein Paar sind und dass sie zusammen ihre Kündigung im Theater eingereicht haben.

2 Kommentare zu „Zwei Menschen, die kein du füreinander haben.

  1. Wow!🤩
    Tolle Geschichte, so gut durchgestaltet! Jede der beiden Figuren behält Eigenschaften bis zum Schluss und bleibt aber nicht eindimensional. Es gibt wiederkehrende Elemente wie die U-Bahn, das Bild mit den Koffern ist sehr poetisch und wie das Leben auf der Probebühne verteilt zur Ausschlachtung liegt ist auch ein stark eindrückliches Bild! „Gast auf Bewährung“ wird sehr gut nachfühlbar, auch dadurch wie du beschreibst. Bin richtig begeistert und beeindruckt von der gesamten Komposition!!!
    Herzliche Grüße,
    Simone Lucia

    Gefällt 1 Person

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